Was Sitte und Brauch ist…

… erzieht von allein, ohne Motivationsakrobatik.

Vor kurzem sah ich auf Phönix eine Dokumentation über die Entwicklung des Automobils. In den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts ging das in Westdeutschland damit sprunghaft voran. Allein die vielen neuen Modelle von Opel, die im übrigen alle noch einen deutschen Namen trugen („Kapitän“, „Taunus“ u.ä.), machten mich damals neidisch.

Jetzt sah ich in der Dokumentation, wie eine Herde von Schuljungen um die neuen Autos herumlief, wenn sie auf der Straße zu sehen waren. Ganz nebenbei fiel mir dabei ein anderes Faktum auf, das gar nichts mit den Autos zu tun hatte: Fast alle Jungen trugen Lederhosen. Da bin ich auf das Thema dieses Beitrags gekommen: Was Sitte und Brauch ist, erzieht von allein, ohne aufwändige, auf das Individuum zugeschnittene Motivation.

Das ist hier einfach so, da beginnt kein morgendliches Grübeln und Zweifeln, worauf einer persönlich heute gerade Lust hat, sondern diese Frage ist, zumindest in  den Sommermonaten, schon entschieden. Da bleibt geistige Energie frei für die wichtigen Fragen des Lebens.

Wir befinden uns demgegenüber im „Westen“ und vielleicht besonders in Deutschland in einer Kultur der Diskussionen, des Immer-wieder-hin-und-her-neu-Begründens, was für ein Individuum gerade passend ist oder auch nicht bzw. warum doch. Ich bin überzeugt, dass die Orientierung an gemeinschaftlichen Standards, die von vornherein und ohne Diskussionen gelten, ein wichtiger Grund dafür sind, dass Demokratien mit einem autoritativen Erziehungsstil wie Südkorea oder Singapur, aber auch autokratische Gesellschaften wie China Deutschland bei den Bildungsergebnissen von Jahr zu Jahr weiter abhängen.

Die Lösung in Deutschland soll sein, sich noch mehr um die individuellen Befindlichkeiten jedes einzelnen Schülers zu kümmern. Das ginge nur, wenn insgesamt erst einmal mehr Ruhe und Ordnung in den Klassen herrschte. Erst dann kann sich der Lehrer psychologische Differenzierungen leisten. Vorher kämpft er ums Überleben, da bleibt kein Platz für das feinfühlige Eingehen auf jeden Einzelnen.

Der Lehrer wird es den ruhigen, sensiblen Schülern zuliebe versuchen, allein weil er in ihnen die Opfer erkennt, zu denen er oft genug und immer häufiger selbst gehört. Er wird sich also um eine „Solidarität der Gemobbten“ bemühen, wird aber bald von den lauten Machos der Klasse genauso dominiert werden, wie es den leisen und sensiblen Mitschülern ergeht.

Erst müsste die Machtfrage geklärt sein, bevor sozusagen die „Liebesfrage“ der individuellen Einfühlung gestellt werden kann. Respekt und die ehrliche Achtung allein vor dem anderen Menschen verbrauchen sich, wenn es keine soziale Ordnung gibt. Von einem Schwachen geachtet zu werden, bringt in der Schule keinen weiter.

Also zuerst einmal muss der Lehrer stark sein und sich durchsetzen können, bevor er Erfolg damit haben kann, sich jedem einzelnen Schüler persönlich zuzuwenden. Die Machos wissen das nur dann zu schätzen, wenn sie wissen, dass das auch ganz anders laufen könnte, nämlich viel härter und strenger. Ist der Lehrer nicht aus Alternativlosigkeit „lieb“ und einfühlsam, weil er sich nicht anders zu helfen weiß, sondern von einer Position der Stärke aus, dann und nur dann wirkt das erzieherisch positiv.

Diese persönliche Stärke kann der Lehrer aber nicht aus sich selbst heraus holen. Glaubt er das, muss er auf die Dauer unweigerlich ausbrennen. Sie muss sich strukturell herleiten aus der sozialen Position des Lehrers und aus der Kraft eines Lehrerkollegiums, bei dem die Schüler wissen: mobben wir einen einzelnen Lehrer, kriegen wir es auch mit allen anderen zu tun.

Natürlich machen Lehrer Fehler wie alle Menschen. Ist ein Lehrerkollegium so, wie ich es mir vorstelle, herrscht in ihm Offenheit und Ehrlichkeit. Gegenseitiges Hospitieren, um voneinander zu lernen, ist die Regel. Es gilt als Leitsatz für alle, die in die Schule gehen (Lehrer und Schüler): Wer strebend sich bemüht, den können wir erlösen, dem wird geholfen, er wird nicht ausgeliefert der Verachtung derjenigen, die sich für etwas Besseres halten.

Und wer sich daran nicht halten kann, wird gewarnt und ermahnt, schließlich zeitweise vom Unterricht suspendiert und wenn das alles nichts hilft, fliegt er raus. Bewirbt er sich in einer neuen Schule, muss er erklären, warum das in der alten nicht geklappt hatte und was er aus seinem Scheitern gelernt hat. Schluss mit der Psycholigisierung, die aggressive Schüler von vornherein und immer nur als Opfer sieht.

Menschen müssen lernen, auch junge, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen. Sie werden genau daraufhin beobachtet, wie sie sich in der neuen Schule benehmen. Sie werden sich kein neues Scheitern leisten wollen, wenn die Gesellschaft erst einmal so in die pädagogische Offensive gekommen ist.

Wenn wir nicht endlich eine Erziehungs- und Bildungspolitik in diese Richtung machen, werden nicht nur die Bildungsergebnisse weiter sinken und damit unser Lebensstandard, sondern auch die Straftaten, die unerzogene Kinder und Jugendliche – auch gegen ihresgleichen – begehen, werden weiter zunehmen. Siehe auch meinen Beitrag „Wer lust- bzw. emotionsgesteuert bleibt…“

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